Es war einmal ein 22-jähriger Pianist, der, obwohl oder eher gerade weil er im Warschauer Chopin-Wettbewerb 1980 unter spektakulären Umständen nicht reüssierte, dadurch die Voraussetzungen für eine glänzende Weltkarriere geschaffen hat, mit der er die Welt in begeisterte Anhänger und überzeugte Gegner spaltete und bis heute spaltet wie wohl kein anderer vor ihm. Seinerzeit mit von der Partie in Warschau war Martha Argerich, für die der junge Ivo Pogorelich der herausragende Pianist des Wettbewerbs war, und die, nachdem Sie sich mit Ihrer Ansicht gegen Ihre Jury-Kollegen nicht durchsetzen konnte, unter Protest den Wettbewerb verließ. Dieser Vorfall erwies sich in der Tat als Zündstoff für die Karriere des jungen Jugoslawen, der mit einer selten perfekten Technik im Konzertsaal und auf Schallplatten bekannte Klavierwerke derart gegen den Strich bürstete und bürstet, dass er für seine Herangehensweise vehementen Zuspruch ebenso erntet wie nicht weniger vehemente Ablehnung. Von der wohlgesonnenen Presse ebenso wie von seinem damaligen Label, der Deutschen Grammphon wurde Pogorelich als Popstar der Klassikszene, als Mick Jagger der klassischen Konzertbühne aufgebaut und vermarktet. Er selbst stützte die Popstar-Saga durch sein extravagantes Auftreten und durch provokante Aussagen nach besten Kräften.
Mitte der 1990er Jahre zog sich Pogorelich zunehmend aus dem regulären Konzertbetrieb zurück, da er mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und nach dem Tod seiner Frau war er für lange Zeit nicht mehr konzertierend tätig. Auf der Bühne war er erst ab 1999 wieder zu erleben, und sofort polarisierte er durch seine zum Teil noch extremeren Interpretationen seine Zuhörerschaft wieder in begeisterte Anhänger und vehemente Gegner, die seine Interpretationen als genial oder als indiskutabel werten. Auch die Kritik ist entsprechend gespalten. So wurden die Interpretationen anlässlich seines Rezital-Programms aus dem Jahr 2015 im Guardian als „erbärmlich“ und „zutiefst unmusikalisch“ bezeichnet, während in der Süddeutschen Zeitung das gleiche Programm als „Hartes Tongeröll, beidhändig aufgetürmt zu Gebirgen von expressionistischer Bildkraft“ gewertet wurde. Seine Kunst sei „die Begegnung mit der Kunst, der Prozess des Wiedererschaffens, […] des Verstehens und des Wiederbelebens“ der Klangwelten, dem „Denken und Empfinden“ der alten Meister.
Auf ähnliche polarisierte Kritik dürfte auch sein neuestes Album mit zwei Beethovensonaten und der Sonate Nr. 2 von Rachmaninoff stoßen, das bei seinem neuen Exklusivlabel Sony erschienen ist. Erneut dürfte auch im Fall des neuen Albums sein Stammpublikum ob der kontrastreichen Dynamik seines Beethoven-Spiels und so mancher rasend schnell absolvierter Läufe hingerissen sein, während seine Gegner monieren werden, dass der Dynamik-Parforce-Ritt und die an der Grenze der Belastbarkeit des Gehörs unmoduliert durchgeklopften Passagen mit Beethoven nichts gemein haben, der zwar Extremen durchaus aufgeschlossen gewesen war, nicht jedoch den ungehobelten Geschmacksverirrungen eines 60-jährigen Pianisten. Im Fall der Rachmaninoff-Sonate werden die Anhänger Pogorelichs die mitunter aufgeraute, ja hässliche Tongebung voller Begeisterung über die Kunst der perfekten Freiheit dem grundsätzlichen Misstrauen des Pianisten gegenüber den kompositorischen Vorgaben zuschreiben. Man kann diese Herangehensweise eines Interpreten an ein Werk Rachmaninoffs aber auch als barbarische Untat eines unkultivierten Pianisten verstehen.
Der Witz an der Geschichte ist, dass sie außer für Puristen, die auf eine angemessene Interpretation Wert legen, eine Win-Win-Situation beschreibt, in der der Pianist unter seinen Anhängern emphatische Zustimmung erfährt, die Presse ausführlich berichten kann und das Label einen beachtlichen Umsatz einfahren wird.
Ivo Pogorelich, Klavier