Nein, es ist keine Premiere, dass Kim Kashkashian, eine der größten Violaspielerin unserer Zeit, wenn nicht gar die größte ihres Fachs, Bachs Suiten für Violoncello auf Ihrem Instrument spielt. Andere haben das schon vor ihr getan und davon auf Tonträgern Zeugnis abgelegt. Da eine Viola ein ganzes Stück kleiner und eine Oktave höher gestimmt ist als ein Cello, bedarf es eines Arrangements des Originals, damit es auf der Viola bzw. Bratsche spielbar ist. Durch den Verlust der tiefen Lage, die dem Cello seinen „zutiefst männlichen“ Charakter verleiht, führt uns das Arrangement für die Bratsche in eine deutlich lichtere klangliche Dimension, die durch einen interpretatorischen Ansatz ausgeleuchtet werden möchte, der sich vom interpretatorischen Ansatz der Originalbesetzung mit einem Cello nicht unerheblich unterscheidet, ja unterscheiden muss, um glaubwürdig zu sein. Dazu kommt, um beim Klanglichen zu bleiben, dass mit den Worten des ungarischen Komponisten György Ligeti „die Viola durch die tiefe C-Saite eine eigenartige Herbheit, kompakt, etwas heiser, mit dem Rauchgeschmack von Holz, Erde und Gerbsäure“ besitzt. Wikipedia beschreibt den Klang der Bratsche zutreffend als voll, weich, dunkel bis in die höchsten Lagen, immer etwas melancholisch, leicht rauchig und etwas näselnd beschrieben. Dem steht gegenüber, dass dem Cello mit einem Tonumfang von nahezu fünf Oktaven der Umfang der männlichen Stimme zu eigen ist, und dass seine Klangfarbe über den gesamten Tonumfang nahezu denselben „linearen“ Charakter ohne die der Viola eigene Herbheit und Heiserkeit aufweist.
Die Bachschen Cello-Suiten konfrontieren den Violaspieler nicht nur mit der Herausforderung, die der Viola eigene Klangpalette mit dem in Einklang zu bringen, was der geniale Thomaskantor für ein Instrument tieferer Lange in Noten gesetzt hat. Vielmehr stellen diese Suiten spieltechnisch allerhöchste Anforderungen für das Cello ebenso wie für die Viola. Vor allem aber fordern sie einen Interpreten, der in der Lage ist, tief in den Inhalt der Komposition vorzudringen, ihn zu deuten und die Deutung den Zuhörern schlüssig zu vermitteln. Eigentlich bedarf es eines Philosophen am Cello, wie seinerzeit eines Pablo Casals. Insofern sind die Cello Suiten von J.S. Bach so etwas wie der Mount Everest für seine ersten Bezwinger: eine schier unüberwindbare Hürde zur Erfüllung eines wahrlich hohen Ziels. Schier unüberwindbar ist der Mount Everest ja nicht mehr, seitdem die Bergtouristen an seinem Fuße Schlange stehen. Ähnlich geht es den Cello-Suiten Bachs, die heutzutage im Gegensatz zu Casals Zeiten zum Repertoire junger und jüngster Cellisten gehören, die sogar technisch besser drauf sind als der große Spanier zu Zeiten seiner Schallplatteneinspielung. Allerdings kann man dasselbe nicht grundsätzlich von der Durchdringung dieser Komposition behaupten, vielmehr sind Philosophen am Cello nach wie vor rar gesät. Dieselbe Situation herrscht unter den Violaspielern, die sich in allerdings bisher in vergleichsweiser geringer Anzahl an den Mount Everest unter den Cello-Solo-Kompositionen gewagt haben.
Kim Kashkashian, deren technische Fähigkeiten außer Frage stehen gelingt es, in die inhaltlichen Geheimnisse der Suiten so tief einzutauchen wie die großen philosophischen Könner am Cello und Schätze zu heben, die sie dann auf der Klangebene den Hörern als schlüssiges Ganzes präsentiert. Dank ihrer technischen Souveränität gelingt es Kim Kashkashian, bei allem Tiefblick in die Komposition jederzeit Spielfreude glaubhaft zu vermitteln und den Eindruck zu schaffen, melodische Einfälle wie frisch improvisiert erklingen zu lassen. Gerne lässt man sich in den Kosmos einbeziehen, den Kim Kashkashian mit ihrer Interpretation der Solo-Suiten aufspannt und wenn sie in der letzten, der sechsten Suite die Klangfarbe ihrer Viola noch ein ganzes Stück erweitert, indem sie eine fünfte Saite aufspannt, ist es als ob der dreidimensionale Kosmos eine vierte Dimension dazugewinnt. Einfach himmlisch.
Kim Kashkashian, Viola