Dass Musik komponiert wird, um Bilder von Malern in Töne zu setzen kommt hin und wieder vor. Ein allseits bekanntes Beispiel sind die „Bilder einer Ausstellung“ des Russen Modest Mussorgsky, angeregt von Gemälden seines Malerfreunds Viktor Hartmanns. Dieses klassische Stück Musik wurde von seinem Komponisten für Klavier gesetzt, wurde jedoch mehrfach für Orchester instrumentiert. Am bekanntesten ist hier die klangstarke Orchesterversion des Franzosen Maurice Ravel. In dieser Fassung haben die „Bilder einer Ausstellung“ selbst ein Publikum erreicht, das mit Klassik weniger am Hut hat. Nicht zuletzt hat die Rockband Emerson Lake and Palmer mit ihrer Live-Version der „Bilder“ in den siebziger Jahren Furore gemacht.
Geht es bei den „Bildern“ Mussogskys um die Beschreibung von Bildinhalten mittels Musik, der sogenannten Programm-Musik, beschreitet der französische Jazz-Klarinettist Louis Sclavis den abstrakten Weg der musikalischen Umsetzung der Eindrücke, die er bei der Betrachtung von Bilder des Street-Art Künstlers Ernest Pignon-Ernest, einem Landsmann des Klarinettisten, gewonnen hat. So geschehen mit dem vor 16 Jahren bei ECM erschienen Album Napoli’s Walls, einer musikalischen Hommage an in Neapel auf Hauswände gebannte Kollagen des Street-Art Künstlers. In der relative großen Besetzung mit Flöte, Cello, Elektronik, Vocals, Gitarre und Blechblasinstrument gibt sich Napoli’s Walls als Grenzgänger zwischen Jazz und Konzeptmusik. Im Gegensatz hierzu wandelt Lois Sclavis mit seinem neuen Album Characters Of A Wall kammermusikalisch akustisch besetzt eindeutig auf dem Pfad des Jazz. Unterstützt wird er von hervorragenden Musikern der französischen Jazzszene, von Benjamin Moussay, Piano, Sarah Murcia, Kontrabass und Christophe Lavergne, Schlagzeug.
Characters On A Wall ist über weite Strecken ein musikalisch überaus intimes Ereignis, das den Hörer schmeichelnd in die Empfindungen von Louis Sclavis bei der Betrachtung der Wand-Kunstwerke von Ernest Pignon-Ernest einbezieht. Problemlos taucht man musikalisch angeleitet in die Gedankenwelt des Klarinettisten ein. Am besten lässt man sich in diese entspannt hineinfallen. Dabei gelingt mühelos, was auch im Jazz nicht an der Tagesordnung ist, die spielerische Freiheit der Improvisationen in vollen Zügen zu genießen. Freiheit ist das Motto des Musikzierens dieses Quartetts auf Characters On A Wall. Niemals entsteht der Eindruck, dass Motive vorgegeben und in einem strengen Korsett eingesperrt variiert werden. Vielmehr entsteht diese Musik scheinbar aus dem Nichts und verändert sich vorsichtig, nahezu schwerelos oder sie kreist endlos um sich herum.
Characters On A Wall vermittelt den faszinierenden Eindruck, schon immer da gewesen zu sein, und nicht erst durch die Aktivität der hier aktiven Musiker zu entstehen. Dies ist ein ganz spezielles Album, das mehr vermag, als bloß zu gefallen: Es kommt einer selbständigen Lebensform schon sehr nahe, deren Lebendigkeit sich aus Erkenntnissen speist, die Louis Sclavis bei der Betrachtung von Werken des Louis Sclavis gewonnen hat.
Louis Sclavis, Klarinette
Benjamin Moussay, Klavier
Sarah Murcia, Kontrabass
Christophe Lavergne, Schlagzeug